Kleine Erinnerung an Alice Schmitz

 

Alice Schmitz

 

Auf offiziellen Dokumenten lautete ihr Vorname Helga. Für ihre Freunde und Bekannten aus der Dresdner Kulturszene war sie Alice. Ob das ihr offizieller zweiter Vorname oder eine Art Künstlername war, weiß ich nicht.

Meine erste Begegnung mit Alice war denkwürdig: im eiskalten Winter 1992 standen wir beide in einer Schlange im Treppenhaus des „Podium“ auf der Hauptstraße, um noch Karten für einen Hermann-Hesse- Abend zu bekommen. Leider vergebens, die Vorstellung war ausverkauft. Wir kamen ins Gespräch, und Alice teilte mir mit, dass sie keine Lust habe, unverrichteterdinge nach hause zu gehen. Sie hatte offenbar die Spielpläne aller Dresdner Kulturstätten im Kopf und wusste, dass es im kleinen Reicker Kino noch eine Spätvorstellung gab. Dorthin fuhren wir mit meinem Auto. Es lief „Terminator II“. Also Arnold Schwarzenegger statt Hermann Hesse – für Alices umfassenden Kulturappetit kein Problem, und für mich eine interessante Erfahrung, zumal Alice den Film während der Vorstellung ungeniert kommentierte.

Den Hesse-Abend im Podium mit Lars Jung haben wir dann noch nachgeholt. Zwar kamen wir wieder zu spät, die bestellten Karten waren schon weiterverkauft, aber dieses Mal schaffte es Alice auf ihre Art, uns ins Theater zu lotsen – vorbei an den Wartenden, deren böse Blicke und Proteste ich beschämt über mich ergehen lassen musste…

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Nach dieser ersten Begegnung haben wir uns angefreundet. Bei unseren gemeinsamen Unternehmungen erfuhr ich natürlich peu à peu einiges aus Alices Leben. Weil ich leider nicht über ihr phänomenales Gedächtnis für Daten und Zahlen verfüge, kann ich nur versuchen, einiges von dem, was sie mir in Lauf der Zeit erzählt hat, ungefähr zu rekonstruieren.

Wer Alice in letzten 20 Jahren kannte, wird sich kaum vorstellen können, dass sie einmal ein bürgerliches Leben geführt hat. Das scheint aber so gewesen zu sein. Helga/Alice wurde am 28. August (Goethes Geburtstag) 1934 in dem zu Dresden gehörenden Dorf Gostritz geboren, wo sie auch aufgewachsen ist und bis 1995 gelebt hat. Sie hat sich selbst immer als „Dorfmädel“ bezeichnet und nach ihrer Umsiedlung in die Neustadt große Sehnsucht zurück nach Gostritz gehabt – während jeder dachte, sie müsse sich wegen ihres Lebenswandels gerade in der Neustadt zuhause fühlen.

Im Elternhaus erfuhr Alice Liebe und Geborgenheit, aber ihre Kindheit war überschattet durch eine verpfuschte orthopädische Operation, von der sie einen steifen Fuß zurückbehalten hat. Die chronische Hautkrankheit (wegen der wir sie alle mit stets dick verbundenen Beinen kennen) kam erst später dazu. Noch am Tag vor dem Bombardement Dresdens war sie mit ihrer Mutter bei einem Arzt in der Innenstadt gewesen. Einen Tag später existierte der Arzt und die Praxis nicht mehr…

Alice hat nur die Volksschule besucht, aber die Eltern ermöglichten ihr Klavier- und Gesangsunterricht. Alice arbeitete als Schreibkraft in der Verwaltung eines Kombinats (ich glaube Getreidewirtschaft) und nebenher im semi-professionellen Verstärkungschor der Staatsoper, die damals, vor der Wiedereröffnung der Semperoper, im Schauspielhaus ihre Spielstätte hatte. – Mit Alice klassische Konzerte zu besuchen und Opernplatten anzuhören, war ein Vergnügen, weil sie davon wirklich etwas verstand und von ihren eigenen Erfahrungen auf der Opern- und Konzertbühne berichten konnte.

Alice heiratete und bezog mit ihrem Mann eine Wohnung ebenfalls in Gostritz, auf der Gostritzer Straße 112. Dort wohnte sie noch, als ich sie kennen lernte. Als rund 1970 ihr Sohn geboren wurde, hörte sie mit der Arbeit im Kombinat auf und wurde Hausfrau – relativ ungewöhnlich für DDR-Verhältnisse. Rund 1980 starb Alices Mann an Krebs. Ich glaube, dass dieser Schicksalsschlag sie aus der bürgerlichen Bahn geworfen hat. Sie kümmerte sich um die Erziehung ihres Sohnes, fand aber nicht zurück ins Arbeitsleben und richtete sich in einem Leben am Rand der Gesellschaft ein.

Wovon Alice seit dem Tod ihres Mannes gelebt hat, weiß ich nicht. Teilweise wohl von der Vergütung für ihre Chorarbeit. Aber in der DDR konnte man ja mit wenig Geld die Grundbedürfnisse befriedigen: essen, wohnen Kleidung und Kultur. Da Alice weder Auslandsreisen noch politische Freiheit noch westliche Konsumgüter vermisste, hätte wegen ihr die DDR sicher nicht unterzugehen brauchen. Das kommunistische Ideal von der Abschaffung des Geldes hatte sie bereits verinnerlicht. Dass Kultur Geld kostet, die Kulturschaffenden von etwas leben müssen und von ihr als Zuschauerin ein finanzieller Beitrag erwartet wird, wollte sie bis zum Schluss nicht begreifen. Sie fand, dass ihr Beitrag in der Mühe bestand, die sie auf sich nahm, um zu den Veranstaltungen zu gehen…

Kurz nach der Wende nahm Alices Sohn, der Koch gelernt hatte, eine Stelle in München an und blieb dort. Sie hat ihn schweren Herzens, aber mit viel Verständnis gehen lassen. Bis zum Schluss hatten sie guten, aber nicht sehr häufigen Kontakt mit einander. Alice schlug sich nach der Wende mit Putzjobs und schließlich mit Sozialhilfe durch. Der tägliche Besuch von Kulturveranstaltungen und Ausstellungen aller Couleur wurde zu ihrem Lebensinhalt – nicht zuletzt auch zu einem Mittel gegen die Einsamkeit. Dies bei steigenden Preisen mit minimalen finanziellen Mitteln zu bewerkstelligen, wurde ihre Lebenskunst. So wurde sie die stadtbekannte „Kultur-Alice“, oder auch „Mutter Courage“ der Kulturszene, weil sie um keinen Trick verlegen war und keine Hemmungen kannte, wenn es galt, ihre Teilnahme am kulturellen Leben sicherzustellen. Als ich Alice kennenlernte, spotteten ihre Wohnverhältnisse jeder Beschreibung. Das Mietshaus in Gostritz, wo sie in der obersten Etage wohnte, war eine Ruine mit undichtem Dach. Außer ihr wohnte in diesem Abbruchhaus nur noch ein Alkoholiker, den man eines Tages tot in seiner Wohnung fand. Alices Wohnung war gefüllt mit Stapeln von Zeitungen, Zeitschriften, Programm- und Reklameheften, Büchern, Stofftieren und Nippes aller Art, die sie von ihren täglichen Streifzügen mitbrachte und sorgfältig aufbewahrte. Zwischen den Stapeln nur noch schmale Gänge. Mitten in diesem Altpapierlager stand der Kachelofen, den Alice mit ritueller Sorgfalt feuerte. Der Putz kam quadratmeterweise von der Wand und bedeckte ihr Klavier. Es gab kein fließend Wasser mehr (außer vom Dach). Zum „Waschen“ benutzte Alice Deo-Spraydosen, die sie bündelweise einkaufte und verbrauchte. Jedes Wohnungsangebot der Woba ignorierte sie. Schließlich kam das Haus in Privatbesitz, und der Besitzer schaltete den Strom ab. Alice behalf sich mit Kerzen.

1999 bekam Alice durch Vermittlung des Vereins „Begleitetes Wohnen“ eine altersgerechte Wohnung am Bischofsweg. Sie stimmte notgedrungen zu, musste dann aber doch mit sanfter Gewalt aus ihrer Bruchbude geholt werden, an der sie hing. Ich atmete auf, nicht zuletzt auch weil Alice sich nun nach Jahren endlich wieder in ärztliche Behandlung begab, was dringend notwendig war, und täglich Besuch vom ambulanten Pflegdienst bekam. Leider war die Lage der Wohnung am Ende des Bischofswegs nicht sehr günstig. Zum Einkaufen und zur Straßenbahn – ihrer Lebensader – musste sie relativ weit laufen, was ihr immer schwerer viel. Selbst Veranstaltungsorte in der Neustadt waren für sie nicht mehr einfach zu erreichen. Aber sie schonte sich nicht, schleppte sich überall hin, wollte und konnte auf die Teilnahme am öffentlichen Leben nicht verzichten. Mehrere Krankenhausaufenthalte mit dem Ziel, ihr offenes Bein zu heilen, waren erfolglos. Außerdem wurde Alters-Diabetes diagnostiziert.

Anfang 2002 verließ ich zu Alices Leidwesen aus beruflichen Gründen Dresden und ging nach Amsterdam. Ich telefonierte hin und wieder mit ihr und besuchte sie, wenn ich in Dresden war – beides zu selten, wie ich im Nachhinein mit schlechtem Gewissen zugeben muss. Bei den Telefongesprächen bewunderte ich stets wieder ihre Zähigkeit, Aktivität und Lebenskraft. Jedes Gespräch begann mit einer Flut von Klagen – über ihre Gesundheit, den Vermieter, die Politik, den Zustand des Kulturlebens. Aber im Lauf des Gesprächs rappelte sie sich auf, gewannen ihre Leidenschaft und ihr Lebensmut wieder die Oberhand. Ich hörte, dass sie immer wieder neue Veranstaltungsorte entdeckte, dass man Filme und Interviews mit ihr machte und öffentlichen Lesungen („Alice im Wunderland“) mit ihr veranstaltete.

Als ich Alice bei meinem letzten Dresden-Aufenthalt im Juni 2010 besuchen wollte (telefonisch hatte ich keine Verbindung bekommen), erfuhr ich von einer Nachbarin, dass sie am 23. März nach kurzem Krankenhausaufenthalt gestorben war. Nachforschungen ergaben, dass ihr Sohn sie auf dem Friedhof Leubnitz-Neuostra an der Seite ihres Mannes beigesetzt hat. Ich war dort. Das Grab ist gepflegt, aber leider anonym, ohne Grabstein.

Ich vermutete, dass zu diesem Zeitpunkt kaum jemand aus der „Szene“ wusste, dass Alice tot ist. Darum habe ich nach meiner Rückkehr die SAX informiert. Später fand ich im Internet auf der Website der DNN einen schönen und treffenden Nachruf von Gabriele Gorgas, der aber natürlich nur die stadtbekannte Außenseite der Alice widerspiegelte.

Ich finde es traurig, dass Alice einsam sterben musste und ohne Anteilnahme „ihrer“ Dresdner Kulturszene beigesetzt wurde. Darum dieser Text zu ihrem Andenken.

Alice ist der ungewöhnlichste Mensch, den ich je kannte. Mit ihr verloren Dresdens Kulturschaffende nicht ihre einfachste, sicher nicht ihre lukrativste, aber ganz sicher ihre dankbarste Besucherin. Eine Frau, für die die Teilnahme am Kulturleben so wichtig war wie die Luft zum atmen. Eines der letzten Dresdner Originale, die neben ihrer Originalität und Skurrilität ein liebenswerter Mensch war. Dass sie einem auch ganz schön auf die Nerven gehen konnte mit ihrem barocken Redeschwall, ihrem Eigensinn, ihrem Trödeln und Zuspätkommen und ihrem Nassauern, muss ich niemandem erklären, der sie kannte. Aber sie konnte nicht nur nehmen, sondern gab auf ihre Art auch zurück, wie ich und Andere erfahren durften. Nicht zuletzt durch ihre Begeisterung, ihre Dankbarkeit. Sie teilte, was sie hatte.

Mancher wird sich gefragt haben, wie viel Alice mit ihrer einfachen Volksschulbildung eigentlich von den oftmals intellektuell anspruchsvollen, avantgardistischen Aufführungen und Ausstellungen begreifen konnte, die sie sich unersättlich reinzog. Sie war keine Intellektuelle. Abstraktion und Symbolik waren ihre Sache nicht. Sie sah und beurteilte alles mit dem Herzen, ganz direkt, gegenständlich. So machte sie sich auf vieles, was sie sah, ihren eigenen Reim, aus ihrem eigenen Blickwinkel, verstand die Werke vielleicht teilweise anders als der Autor es sich gedacht hatte und geübte Kulturrezipienten es gewohnt sind. Ihre Kommentare wirkten manchmal naiv, verdienten aber, ernst genommen zu werden.

Alice spielte nicht eine Rolle, war sich aber davon bewusst und nahm es hin, von den meisten auf den ersten Blick als die „komische Alte“ wahrgenommen zu werden. Hinter ihrer Exzentrizität steckte aber eine Persönlichkeit mit vielen Facetten. Sie glaubte an die Liebe und litt bitter darunter, dass die Liebe in ihrem persönlichen Leben nach dem Tod ihres Mannes keinen Platz mehr hatte. Wenn sie sich um eine behinderte bettlägerige Nachbarin in ihrem Haus am Bischofsweg kümmerte, dann war sie nicht die schräge Kultur- Alice, sondern die einfache zupackende Nachbarsfrau mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Und mancher junge Mensch, der ihr von persönlichen Problemen berichtete, wurde von ihr gedrückt und hat mütterlich tröstende und aufmunternde Worte zu hören bekommen.

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Als der Wiederaufbau der Frauenkirche sichtbare Forschritte machte, war Alice begeistert. Alle Zweifel am Sinn des Wiederaufbaus wischte sie leidenschaftlich beiseite. Sie wolle sich stark machen, so sagte sie, um die Fertigstellung noch zu erleben. Das ist ihr gelungen. – 75 ist kein schlechtes Alter, aber Alice wäre gerne noch älter geworden, hätte gerne noch mehr gesehen, noch mehr erlebt.

Viel wäre noch zu erzählen – aber jeder hat ja seine eigenen Erinnerungen an Alice. Die wollte ich hiermit ein wenig wachrufen…

Joachim Mädlow

Amsterdam, 20.03.2011

 

© DNN 23.07.2010 Seite 11 Gabriele Gorgas

Alice Schmidt ist tot: Dresdens treueste Kulturgängerin starb im Alter von 75 Jahren

Erst jetzt wurde bekannt, dass Alice Schmidt, die Kultur-Alice, im Alter von 75 Jahren verstorben ist.

Wenn ein Dresdner Original aus dem Stadtbild verschwindet, fragt bald jeder nach, wann und wo es zuletzt gesehen wurde. Und kann sich keiner mehr so recht erinnern, dürfte das schon bedenklich sein. Tatsache ist, dass die allseits bekannte Kultur-Alice seit geraumer Zeit nicht mehr in der Dresdner Neustadt gesichtet wurde, und selbst zur Tanzwoche Dresden, wo sie stets zu den Stammbesuchern gehörte, tauchte sie in diesem Jahr überhaupt nicht auf. Bislang allerdings war sie auch nach längerem Verschwinden immer wieder zurückgekehrt an jene Kulturorte, wo sie als hartnäckig Einlass begehrende, quasi treueste Kulturgängerin Dresdens mit etwas Glück auch gleich noch die Eintrittskosten sparte.

Das wird es nun offenbar nicht mehr geben, denn aus verlässlicher Quelle – und dazu kann man Lutz Fleischer getrost zählen – soll Alice Schmidt, wie sie mit vollem Namen heißt, schon vor einiger Zeit verstorben sein. Glauben lässt sich das allerdings kaum, wo sie doch ein Mensch ist, der immer wieder auf die Beine kommt. Selbst dann, wenn diese mehr als lädiert und permanent wegen offener Wunden dick umwickelt sind. Alice hatte offenbar schon ewig gesundheitliche Probleme, doch darüber sprach sie kaum. Nur dann, wenn sie erbarmungslos eine Mitfahrgelegenheit suchte und eindringlich beklagte, dass sie so schlecht zu Fuß sei. Mit derartigen „Anfragen“ war bald jeder mal konfrontiert, und die Erwählten haben die eifrige Theater-, Konzert- und Ausstellungsbesucherin dann oft auch nach Hause gebracht. Was sich glücklicherweise vereinfachte, als sie nicht mehr irgendwo weit draußen in Kaitz, sondern in der Neustadt auf dem Bischofsweg wohnte.

Verrückte Geschichten von Alice gibt es viele – diese Frau hatte eine Art, sich in Erinnerung zu bringen, der man sich einfach nicht entziehen konnte. Wo sie nicht hinkam, da passierte auch nichts. Sie fand immer Helfer, eine Bahn, den Bus, um ihr erkorenes Ziel zu erreichen, war, wenn es ihre Gesundheit erlaubte, offenbar täglich unterwegs und kannte sich bestens aus in den Veranstaltungsprogrammen. Die sie überall einsammelte und aufmerksam studierte. Ich erinnere mich, dass ich sie vor langer Zeit in Eile auf dem Bischofsweg antraf und fragte, wo sie denn hin wolle. Das werde sie je nach der Bahn, die zuerst kommt, entscheiden, sagte sie. Vielleicht gehe sie aber auch gleich in die Schauburg, „das ist nicht so weit“. Schließlich sind wir zusammen losgezogen, zu einer Premiere ins damalige TIF, und während sie nach der Vorstellung eifrig das Buffet frequentierte, fragte sie so ganz nebenbei: und wann fahren wir wieder zurück? Lästig, nein, lästig war sie nie. Nur eben hartnäckig – und ein Opfer fand sich fast immer.

Dass es Alice in Dresden nicht mehr geben soll, wird keiner so recht glauben können. Sie gehörte mit all ihren Eigenarten zum vitalen Szenekern der Stadt, war in Kinos, Konzerten, im Staatsschauspiel, in der kleinen szene, im Projekttheater oder der Alten Feuerwache anzutreffen, auch im Lingner-Schloss, im Societätstheater, in der Yenidze wie in Hellerau. Alice, die nach eigener Aussage einst Chorsängerin im Opernhaus gewesen ist, ihren Mann durch Krankheit schon vor weit mehr als 20 Jahren verloren hatte und offenbar den in der Ferne lebenden Sohn kaum sah, schien so eine Art Anzeiger dafür, ob Veranstaltungen auch ausreichend bekannt gemacht wurden.

Wo immer sie hinkam, hatte sie neben dem Gehstock mindestens zwei prall gefüllte, raschelnde Plastikbeutel dabei, sorgte emsig dafür, dass darin bei entsprechenden Gelegenheiten Überlebenshäppchen verschwanden, informierte auch andere über den Weg zum Buffet.

Gewiss, Alice war schon etwas auffällig, und es brauchte einige Zeit, bis man sich offen entschieden hatte, sie stets und überall zu begrüßen. Zudem waren das ja stets folgenreiche Begegnungen – sie hatte ein recht einnehmendes Wesen. Was sie aber keinesfalls diskreditieren soll. Es gehörte halt zu ihrer Lebensart. Man konnte sich mit ihr angeregt unterhalten, sie kritisierte, lobte, hatte für Vieles Interesse. Und investierte jeden Cent, den sie irgendwo einsparte, in ihr persönliches Kulturerleben. Im gewissen Sinne also ein bescheidenes Mäzenatentum. Und sie war auch würdevoll auf ihre Art. Als ein geplanter Artikel über Alice im SAX erscheinen sollte und – wie es halt manchmal so ist – einfach nicht fertig wurde, fragte sie gar nicht mehr nach, sondern machte gegenüber der Autorin nur eine unvergleichlich-wegwerfende Handbewegung über die Schulter. So, als würden täglich Texte über sie erscheinen, und auf diesen käme es nun gewiss nicht mehr an.

Wir werden sie alle vermissen – sie war selbst schon eine Kultfigur, spielte in Szenefilmen mit, las aus „Alice im Wunderland“ vor. Wer mehr über diese Frau erfahren möchte – alles lässt sich eh nicht mehr herausfinden -, der sollte beim derzeitigen Schaubudensommer in der Dresdner Neustadt bei Lutz Fleischer und seiner Bude vorbeischauen. Er weiß manches zu erzählen, auch, dass sie im August 2009 runde 75 Jahre alt geworden ist. Immerhin ist er dabei gewesen, und der sammelnde Künstler, der jedweden Fund denkwürdig aufwertet, plant nun, Alice eine Ausstellung zu widmen. Mit allem, was sich finden lässt. Und was andere vielleicht noch dazu beisteuern können. Bis dahin sollte auch bekannt sein, wann genau Alice gestorben ist und wo sie ihre letzte Unruhe gefunden hat. Das war trotz vieler Telefonate leider nicht zu erfahren. Vielleicht taucht sie ja auch wieder auf. Bei Alice ist alles möglich.

Gabriele Gorgas

 

© DNN 24.07.2010 Seite 11 Gabriele Gorgas

Alice live im Film – Neuigkeiten zur Kultur-Alice von DNN-Lesern

Dass noch etwas zu erfahren sein wird über unsere Kultur-Alice, das war klar im Hinblick auf die vielen Fragezeichen, mit denen sie sich aus dem Leben verabschiedete. Doch es überrascht schon, wenn in der Redaktion und per Telefon postwendend gleich entsprechende Nachrichten eintreffen. Freundlicherweise hat sich zum Beispiel die Friedhofsverwaltung von Dresden Leubnitz-Neuostra gemeldet. Und so ist jetzt auch geklärt, wann Alice gestorben und wo sie begraben ist. Was aber zuerst berichtigt werden muss – kein Wunder, sie war ja allen nur als Alice bekannt –, ist ihr Name. So, wie er getreu zu Buche steht und nicht einfach nur vom Hörensagen überliefert wurde. Verzeichnet ist da Helga Alice Schmitz, eine gebürtige Fabich, und wie bekannt, blieb es auch nicht beim Rufnamen Helga, sondern es wurde eine Alice daraus.

Gestorben ist sie bereits am 23. März 2010 in Dresden. Eine gute Bekannte von ihr, Frau Arlt-Müller, berichtet, dass Alice geplant ins Krankenhaus gekommen war zu einer Operation, kurzzeitig wieder nach Hause kam und bald darauf im Krankenhaus verstorben ist. Sie selbst hatte das mühsam herausfinden müssen, als sich Alice überhaupt nicht mehr meldete. Bezeichnend für diese ist, dass sie zwischenzeitlich im Februar, als es ihr ausgesprochen schlecht ging, noch die Reihe „Dichterwort“ besuchte – sie hat einfach nicht loslassen wollen von ihrem Lebenselixier. Frau Arlt-Müller weiß manches über die Familiengeschichte von Alice zu berichten, und dass sie die Liebe zur Kunst von ihrem Vater vermittelt bekommen habe, der in irgendeiner Weise in Beziehung stand zur Künstlergruppe Brücke. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Beigesetzt wurde Alice in der Grabstätte ihres 1980 verstorbenen Mannes: Maschinenschlosser Dietrich Schmitz. Das ist wohl auch der Grund, warum es nicht der Neustädter Friedhof ist, wo Alice nun begraben ist – sie wohnte früher unter recht unwürdigen Bedingungen in der Gostritzer Straße, und auch ihr Elternhaus befindet sich in dieser Gegend. Wer möchte, kann gern die Grabstelle besuchen, doch er sollte sich den Weg dahin von Frau Weiß (0351 4370886) beschreiben lassen. Am 28. August wäre Kultur-Alice 76 geworden. Wer sie übrigens kurz und quicklebendig im Film erleben will, kann das beispielsweise noch in zwei Werbespots der Dresdner Verkehrsbetriebe: „Warten auf Godots Tram“ und „Bergbahnfahrt mit Hindernissen“. Da reicht es schon, bei Google ihren (richtigen) Namen einzugeben.

G. Gorgas

 

© SZ 26.08.2011 Doreen Hübler

Das Vermächtnis der Alice Schmitz

Sie war Stammgast auf fast jeder Kulturveranstaltung der Stadt – bis Alice voriges Jahr starb. Fans erinnern nun mit einer Ausstellung an die eigenwillige Oma.

Alice Schmitz war immer da. Sie hatte meist doppelt so viele Termine wie der Kulturbürgermeister und interessierte sich einfach für alles. Für das Kammerspiel im Schauspielhaus, den neuesten Film mit Arnold Schwarzenegger, für Dadaismus von Dresdner Dichtern und Kurzfilme aus Osteuropa.

Wenn die hiesige Kultur jemals einen Stammgast hatte, dann war es die alte Dame, die jeder sah und doch nur wenige kannten. Alice mit den dick umwickelten Beinen, mit dem Stock in der einen Hand und vollen Beuteln mit Resten vom Buffet in der anderen. Oft ein wenig mürrisch, aber garantiert nie zu übersehen. Meist platzierte sie sich in der ersten Reihe. War ein Termin ausverkauft, diskutierte sie so lange, bis sie doch mit im Saal saß.

Eine Ahnung vom Alltag

Alice lebte als urbaner Mythos. Dass in ihrem Ausweis vermutlich ein anderer Name stand, haben nur die erfahren, die mit ihr plauderten, nachdem der Vorhang gefallen war. Sie hatten eine Ahnung von ihrem früheren Leben als Mutter und Angestellte, von der Krankheit, die unter den Verbänden steckte. Und sie wunderten sich, als Alice im Kulturland plötzlich nicht mehr zu sehen war. Erst viel später kam heraus, dass sie am 23. März 2010 im Alter von 75 Jahren gestorben war.

Fans und Freunde hat sie bis heute. Zum Beispiel den Dresdner Künstler Lutz Fleischer, der die eigenwillige Oma in den vergangenen Jahren begleitete, Dokumente, Fotos und Videos sammelte und nun als Kurator einer Erinnerungs-Ausstellung zusammengefügt hat. Noch bis zum 10. September ist die Schau in der Galerie Adam Ziege in der Louisenstraße zu sehen.

Unter falschem Namen

Auch der Bildhauer Matthias Jackisch hat einige Erinnerungen beigesteuert – und noch viel mehr im Kopf „Alice hat immer gesagt, dass sie die Kunst genießt“, erzählt er. „Heute wollen alle selbst Kunst machen, aber sie hat einfach nur konsumiert.“ So viel Kino, Theater, Tanz und Poesie, dass sie irgendwann selbst eine kleine Berühmtheit in der Dresdner Szene wurde.

Am Sonntag wäre Alice 77 Jahre alt geworden. Ein Anlass, der mit einer Geburtstagsparty gefeiert wird. Die Galerie lädt ab 15 Uhr zu Kaffee, Kuchen und Plauderei über die Dame mit dem falschen Namen.

 

Kurzfilme der Dresdner Verkehrsbetriebe mit Helga Schmitz

Vor bekannten Dresdner Kulissen entstanden zwei schräge Kurzfilme, die vom Charme und Witz der agierenden Schauspieler leben. Als Protagonisten wurden Albrecht (Alu) Goette und Holger Hübner vom Ensemble des Staatsschauspiels Dresden engagiert. Die vor allem in der Dresdner Neustadt bekannte Helga Schmitz alias „Alice Wickelbein“ als schrille Endsiebzigerin komplettiert in ihrer Gastrolle die skurrilen DVB-Spots.

DVB-Werbespot ‚Bergbahnfahrt mit Hindernissen‘
DVB-Werbespot ‚Warten auf Godots Tram‘

Alice Schmitz
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